Was sich hinter Zero-Based-Mindset verbirgt

Ist ein Prozess einmal etabliert, wird er selten in Frage gestellt. So bindet er auch dann noch Kapital, wenn er durch neue Lösungen ersetzt werden könnte. Mathias Gehrckens und Ayse Engel von Accenture erklären, wie Unternehmen dies mit dem Zero-Based-Mindset erkennen und lösen.

Mathias Gehrckens Zero-Based-Mindset
Mathias Gehrckens ist Geschäftsführer Handel und Konsumgüter bei Accenture Deutschland sowie Mitgründer der dgroup, Teil des globalen Accenture-Netzwerkes.

Neue, digitale Technologien beschleunigen Veränderungen in der Geschäftswelt weiterhin drastisch. Um Schritt halten zu können, müssen Unternehmen in Deutschland gebundenes Kapital, welches keinen klaren Beitrag zur Realisierung der Geschäftsstrategie beiträgt, zugunsten ihrer künftigen Wachstumsziele freisetzen. Mit vier Ansätzen zu ZBx – oder auch Zero-Based-Mindset – erhalten Unternehmen völlig neue Einblicke in ihre Profitabilität.

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„Ja, ich schlafe exakt von 23.15 bis 6 Uhr morgens.“ Die Antwort des Gerry-Weber Chefs Johannes Ehling in einem Interview vom Dezember 2018 auf die Frage, ob er noch gut schlafen könne, klingt zuversichtlich. Die Realität zeichnet jedoch ein düsteres Bild. Nach Jahren sinkender Margen hatte sein Unternehmen gerade am Bielefelder Amtsgericht Insolvenz angemeldet.

Der Fall Gerry Weber steht sinnbildlich für die sich rapide wandelnde Retail-Landschaft. Die klassischen Größen im stationären Handel sehen ihre Marktanteile von Online-Geschäftsmodellen bedroht. Multichannel-Strategien und digitale Ladeninfrastruktur treiben die Wettbewerbskomplexität und generieren Druck auf die Marge. Auch auf der Marktseite findet ein Umdenken statt. Der ermächtigte Kunde erwartet ein personalisiertes Erlebnis mit auf ihn individuell zugeschnittenen Produktvorschlägen und Services, die er in Echtzeit vergleichen kann und die am besten noch am selben Tag geliefert werden. Die physische- und digitale Shoppingwelt verschmelzen zunehmend und wer nicht mitzieht, hat das Nachsehen.

Fashion-Marktgrößen wie Esprit oder Tom Tailor geht es nicht viel besser als Gerry Weber. Das Dilemma: Der Druck auf die Margen bindet Investitionskapital und verhindert die Finanzierung einer digitalen Transformation. Daraus resultiert ein Mangel an Wachstumsperspektiven, welcher die Anfälligkeit für Disruption verstärkt und damit wiederum den Druck auf die Margen erhöht. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, werden Kostenreduktionsprogramme implementiert, die allerdings nur selten die grundlegenden Probleme beseitigen und deshalb meist nicht nachhaltig sind.

Dabei gibt es mit dem sogenannten Zero-Based-Mindset (ZBX) bereits eine Lösung, die eine Sanierung der Kostenstruktur verspricht und so gezielt Geld für Wachstum freisetzt – eine Lösung, die mit Management- und Budgetierungsfehlern der Vergangenheit aufräumt und Kosten- und Investitionsmaßnahmen rigoros hinterfragt. Es stellt sich nunmehr die Frage, ob Einzelhändler mit der ZBX-Methodologie technologische, strukturelle und personelle Veränderungsnotwendigkeiten nachhaltig umsetzen können.  

Warum traditionelle Kostenreduktionsprogramme nicht greifen

Viele Einzelhändler sind fest davon überzeugt, dass Kostensenkung in ihrer DNA liegt und lassen der finanziellen Problemdiagnostik eine unternehmensweite Kostenreduktionstherapie folgen. Doch die klassischen „Arzneien“ wirken im Zeitalter stetig wandelnder Kostenstrukturen nicht mehr. Besonders durch die technologische Evolution sinken bestimmte Kostentreiber drastisch, andere hingegen steigen sprunghaft an. Herkömmliche Budgetierungs- und Steuerungsmethoden leiten zukünftige Budgets, Kennzahlen und Strategien jedoch anhand des Status Quo’s ab und ermöglichen somit lediglich den Blick in einen Rückspiegel.

Oft gelingt dem Management die langfristige Vision und Einbindung der Programme in die Unternehmenskultur nicht. Laut Accenture Strategy Research halten nur 51 Prozent aller Befragten die Kosteneinsparungen für ein bis zwei Jahre aufrecht. Dies deutet darauf hin, dass traditionelle Kostentransformationsprogramme nicht nachhaltig sind. Stattdessen wird ein Projektionsobjektiv benötigt, das den Status Quo in Frage stellt und gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen stärker in den Fokus rückt.

Zero-Based-Mindset als nachhaltige Antwort

ZBx – die „null-basierte“ Denkweise – betrachtet Unternehmen unvoreingenommen und vorurteilslos von einem neuen Standpunkt aus. Nach jedem Budget-Zyklus werden alle Budgets auf Null gesetzt und von Grund auf neu erstellt, statt die Zahlen des letzten Jahres zu verwenden. Jede Ausgabe wird hinterfragt. Das Zero-Based-Mindset vermeidet damit die Fortschreibung von Fehlallokationen in die Zukunft. Es berücksichtigt zudem explizit, wie sich Veränderungen auf der Marktseite – etwa hinsichtlich Kundenerwartungen – auf die Kosten auswirken.

So bringt ZBx eine „Smart Spend“-Mentalität in die Gesamtkostenstruktur und Betriebsmodelle ein, um Kosten neu zu verteilen und die Komplexität zu vereinfachen. Basis dieses Ansatzes ist die Notwendigkeit der Rechtfertigung jedes ausgegebenen Euros, um so den Fokus auf Transparenz und Verantwortlichkeit zu legen. Die Kostenreduktion spiegelt dabei einen von mehreren wesentlichen Faktoren der ZBx-Mentalität wider. Insgesamt handelt es sich um einen ganzheitlichen Ansatz, der „Investitionskapital“ für Wachstum und Transformation freisetzt. Grundsätzlich  lassen sich vier Kernkompetenzen definieren, die bei der Umsetzung des Ansatzes entscheidend sind.

Die vier Bausteine der ZBx-Mentalität

Zero-Based-Spend (ZBS) identifiziert mittels granularer Kostenanalyse indirekte, nicht-personelle Gemeinkosten von unwesentlicher strategischer Bedeutung. Es ermöglicht der Führungsriege, nicht wertschöpfende Kostenpositionen in den Gemeinkosten transparent zu machen und über eine offene Diskussion die Kostenkultur des Managements zu verändern.

ZBS orientiert sich nicht mehr an der alten top-down Logik der Kosten als Prozentsatz vom Filialumsatz oder an der Fokussierung auf Filialdeckungsbeiträge. Stattdessen zielt ZBS auf eine bottom-up getriebene Neuverteilung der Kosten. Dieser Ansatz vermeidet alle Verhaltensmuster, in denen bestehende Budgets am Jahresende noch schnell ausgenutzt werden, unabhängig davon, wie sie zum Unternehmenserfolg beitragen.

Zero-Based-Organization (ZBO) gestaltet Organisationsstrukturen von Grund auf und verlagert Ressourcen hin zu Funktionen, die essentiell sind, um in der Zukunft zu bestehen. Dabei entsprechen Organisation, Fähigkeiten und Ressourcen nicht notwendigerweise jenen, die für vergangenen Erfolg verantwortlich waren.

Zu viele Händler agieren heute noch in funktionalen oder geographischen Silos. In der Folge werden oftmals Kostenentscheidungen isoliert getroffen. Häufiges Beispiel sind IT-Kosten, die oft nicht nur in der IT, sondern auch in den Fachbereichen sitzen. Dies führt dazu, dass sowohl Fähigkeiten, als auch Kosten in Summe zentral oft gar nicht transparent erfasst sind.

Zero-Based-Commercial (ZBC) optimiert Marketing, Vertrieb, Kundendienst und Preisbildung, um individuelle Konsumverhalten besser ansprechen zu können. Durch bottom-up Visbilität können mit ZBx Optimierungspotentiale im Marketing Mix identifiziert werden. Besonders in den Breichen Filialmarketing (Point-of-Sale Marketing, Promotions) sowie Branding (PR, Influencers, Events) und Marktforschung lassen sich oftmals Hebel für Einspar- und Wachstumspotentiale identifizieren.

Zero-Based-Supply-Chain (ZBSC) ermittelt die Soll-Kosten des Materialaufwands und identifiziert Kostenreduktionspotentiale anhand von drei Hebeln: Preis, Leistung und Qualitätssteuerung. Entlang eines geschlossenen Kreislaufprozesses werden außerdem Produkt- und Servicekomplexität optimiert.

Auf der Backend-Seite ist „Cross- Channel Supply Chain Management“ von entscheidender Bedeutung, d. h. die kanalübergreifende Optimierung von Supply Chain-Strukturen und Warenflüssen, die logische End-to-End-Integration von Warenbeständen, sowie die Unterstützung von Warenplanung, -steuerung und Logistik durch intelligente entscheidungsunterstützende Systeme.

Wie ZBx zur Erfolgsgeschichte wird: Transparenz und Vergleichbarkeit in Kostenkategorien schaffen

Tiefgehende Wettbewerbsanalysen und Benchmarking bilden das Fundament des ZBx-Ansatzes. Erster Schritt dabei ist die einheitliche und transparente Definition von Kostenkategorien. Hierbei ist entscheidend, dass sowohl intern, als auch extern Vergleichbarkeit gewährleistet wird.

Auf dieser Grundlage können Kostenkategorien dem 0-basierten Stresstest unterzogen werden. Hierzu hat Accenture eine umfangreiche Datenbank mit industriespezifischen Kennzahlen je Kostenkategorie aufgebaut. Die Performance des Kunden kann darin mittels Perzentilwerten ermittelt werden. Diese dienen zur Offenlegung von Leistungslücken zum sogenannten Klassenbesten und begründen die Identifikation unternehmensspezifischer ZBx-Potentiale.

Belegschaft mobilisieren

Insbesondere im Handel, wo häufig noch in funktionalen Silos operiert wird, muss sicherstellt werden, dass Mitarbeiter und Interessengruppen über die Bereiche und Funktionen hinweg, Einblick in schwierige Entscheidungen erhalten, die im gesamten Unternehmen getroffen werden. Die regelmäßige Kommunikation positiver Ergebnisse und die Bindung der ZBx-Initiativen an strategische funktions- und hierarchieübergreifenden Ziele tragen dazu bei, eine persönliche Identifikation mit der Strategie in allen Ebenen und Unternehmensbereichen sicherzustellen und die interne Dynamik zu fördern.

ZBx-Kultur vorleben

Ein Zero-Based-Mindset-Programm sollte niemals ohne die volle Unterstützung des Top-Managements begonnen werden. Insbesondere im Handel, der häufig noch durch sehr dezentrale Entscheidungsstrukturen geprägt wird, ist es wichtig, dass sich das Management nicht nur in der Zentrale, sondern auch in den dezentralen operativen Einheiten gemeinsam auf die Reise von ZBx-Programmen macht. Dabei ist eine Grundvoraussetzung, dass das Management dezentraler Einheiten auch dazu bereit ist, durch Verzicht auf ein individuell für ihre Einheit gefühltes Optimum und im Sinne des Gesamtunternehmens bzw. der übergeordneten strategischen Zielsetzung, zu einer neuen Gesamtunternehmenslösung beizutragen.  Die „Smart Spend“-Reise fordert viele Entscheidungen, die den langjährigen kulturellen Gewohnheiten von Unternehmen und auch etablierten Steuerungsgrößen und Entscheidungsstrukturen entgegenstehen könnten. Vorausgesetzt, dass die Führung sich an der Debatte aktiv beteiligt und die Richtung angibt, der das Unternehmen folgen soll und dabei auch bereit ist konsequent alte Zöpfe abzuschneiden Eine Studie zu Zero-Based-Mindset zeigt, dass kulturelles Buy-in (67 Prozent) und Change Management (41 Prozent) die anspruchsvollsten ZBx-Herausforderungen sind.

Ausblick: Die Null erobert den Einzelhandel

Viele Einzelhändler haben bereits angefangen den ZBx-Weg der Null-basierten Mentalität zu beschreiten, auf globaler Ebene mittlerweile etwa 300 Händler. Eine Accenture Studie hat ergeben, dass die Nutzung von Zero-Based-Mindset in den letzten Jahren mit durchschnittlich 57% exponentiell gewachsen ist. Der Erfolg gibt ZBx dabei Recht – identifizierte Einsparungspotentiale befinden sich oftmals im dreistelligen Millionenbereich, teilweise sogar darüber.

Die großen Disruptoren im Einzelhandel wachsen derzeit exponentiell. In der westlichen Hemisphäre sind es GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple), in der östlichen Hemisphäre BAT (Baidu, Alibaba, Tencent), die immer neue Marktsegmente erschließen. Für klassische Unternehmen des stationären Handels ist es daher unerlässlich mit Mut und Veränderungsbereitschaft zu handeln, um die eigene Zukunft noch selbst gestalten zu können. Ein wesentlicher Bestandteil der notwendigen Transformationsreise ist es, Maßnahmen zu ergreifen, die das bestehende Geschäft profitabel halten. Nur so lassen sich die erheblichen technologischen, strukturellen und personellen Veränderungsnotwendigkeiten finanzieren.

In einem Zeitalter massiver und disruptiver Neuordnung der Handelslandschaft, können ZBx-Dogmata ein entscheidendes Puzzleteil sein, um die notwendige Unternehmensagilität in allen Ebenen zu etablieren und die relevanten finanziellen Mittel für die erforderlichen Transformationsmaßnahmen bereitzustellen. So können dann hoffentlich auch die Vorstände der in Not geratenen stationären Händler bald wieder ruhiger schlafen.

Über die Autoren

Mathias Gehrckens ist Geschäftsführer Handel und Konsumgüter bei Accenture Deutschland sowie Mitgründer der dgroup, Teil des globalen Accenture-Netzwerkes. Gehrckens veröffentlicht regelmäßig Artikel und Fachbücher rund um die digitale Transformation des Handels, zuletzt gemeinsam mit dem Handelsexperten Professor Dr. Gerrit Heinemann sowie dem Accenture-Geschäftsführer Thomas Täuber die Publikation „Handel mit Mehrwert – Digitaler Wandel in Märkten, Geschäftsmodellen und Geschäftssystemen.“

Ayse Engel ist Senior Managerin bei Accenture und betreut dort die Retail Finance Community. Engel verfügt über zehn Jahre Erfahrung im Bereich Finance Transformation, der Entwicklung neuer Betriebsmodelle für den Bereich Finanzen und Controlling, sowie beim Aufbau digitaler Strategien für den CFO, mit dem Fokus auf die Segmente Handel und Konsumgüter.

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