Pick & Go: Scannen war gestern

Als Amazon Ende 2016 einen ersten kassenlosen Laden eröffnete, gab das E-Commerce-Unternehmen wahrscheinlich einen Ausblick auf das stationäre Einkaufen der Zukunft. Schließlich dürften sich kaum noch Kunden für das Anstehen an der Kasse oder selbst aktives Self-Checkout erwärmen, wenn sie andere Geschäfte direkt mit der gewünschten Ware verlassen können. Deshalb experimentieren auch in Europa immer mehr Händler mit Pick&Go-Systemen – wobei sie allerdings Amazons lizensierbare Technologie meist ignorieren.

Stattdessen setzen sie verstärkt auf das israelische Start-Up Trigo und die kalifornische Firma AiFi. Trigo wurde unter anderem von Rewe, dem roten Netto, Aldi Nord und der britischen Kette Tesco als Versuchspartner gewählt. AiFi kommt beispielsweise beim französischen Carrefour, dem britischen Morrisons, Aldi UK und der polnischen Żabka Group zum Einsatz. Żabka unterhält inzwischen sogar die meisten kassenlosen Shops in Europa – und wird vermutlich so schnell nicht wieder eingeholt. Allein im März 2022 wächst das Filialnetz von derzeit 25 (Stand: Januar 2022) auf dann mindestens 37 Standorte. Damit liegt Żabka selbst vor den bislang 15 Amazon Fresh-Installationen in Großbritannien.

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Selbe Grundidee

Pick & Go bei Netto in München (Bild: Netto)

Bei der grundlegenden Idee ähneln sich die Systeme von Amazon (Just Walk Out), Trigo (EasyOut) und AiFi (OASIS) stark. Kameras und Sensoren erfassen bei ihnen präzise, wer was aus den Regalen bzw. aus den Frischwarenbereichen entnimmt und wieder zurücklegt. Dazu werden die Bewegungen der Kunden anonym getaggt; ihr Aussehen und ihre biometrischen Merkmale spielen keine Rolle. Zumindest die Lösung von Trigo scheint sogar den strengen deutschen Datenschutzregeln zu genügen, da sie sowohl im Hybrid-Markt von Rewe in Köln als auch in der Pilot-Filiale von Netto in München-Schwabing zum Einsatz kommt.

Um die Angebote zu verwenden, müssen Kunden derzeit meist eine spezielle App des jeweiligen Händlers herunterladen und auf ihrem Smartphone installieren. Diese erlaubt dann nach einem Scan Einlass in die jeweilige Filiale oder schaltet bei hybriden Geschäftsmodellen (klassisch/kassenlos) die Pick & Go-Funktion frei. In der App wird zudem die gewünschte Zahlungsmethode hinterlegt, um den Einkauf nach dem Verlassen der Filiale darüber abzurechnen. Langfristig werden Händler neben der App auch weitere Zugangsvarianten einführen müssen, da Google-Rezensenten sich schon jetzt über die drohende App-Flut beklagen. Amazon erlaubt in manchen seiner Go-Filialen, mit einer im Amazon-Account hinterlegten Kreditkarte oder per Handflächenscan einzuchecken. Im chinesischen Markt wird dagegen die stark verbreitete WeChat-App gern als universeller Zugangsschlüssel verwendet.

Kassenzone als Alternative

Carrefour umgeht das Problem in seinem Pariser Concept Store durch einen komplett anderen Ansatz. Um die Flash 10/10-Filiale nutzen zu dürfen, müssen sich Kunden weder registrieren noch eine App herunterladen. Der Laden lässt sich zudem wie jedes klassische Geschäft einfach betreten und verlassen. Der wegfallende Check-In-Prozess auf Konsumentenseite wird durch den Check-Out kompensiert. Kunden bezahlen ihre automatisch erfassten Produkte hier kontaktlos an speziellen Terminals – wobei der gesamte Vorgang beim Einsatz einer Kreditkarte gerade einmal zehn Sekunden dauern soll. Dieses Versprechen spiegelt sich bereits im Namen wieder. Flash 10/10 steht für “10 Sekunden zum Einkaufen und 10 Sekunden zum Bezahlen”. Ein spezieller Kiosk ermöglicht zudem den automatisierten Check-Out via Barzahlung. Carrefour fährt allerdings zweigleisig: Der Carrefour City+-Markt in Dubai folgt dem App-Prinzip.

Die Kontrolle des Check-Ins hat einen zusätzlichen Vorteil für Händler, weil Diebstähle effektiv vermieden werden. Da Kameras und Sensoren alle Produkte immer im Auge behalten, ist das Verstecken von Waren unter der Jacke oder in mitgebrachten Taschen kein Grund zur Besorgnis mehr. Schließlich weiß das System genau, wessen Konto dafür belastet werden muss – weshalb es sich mit den gewohnten Tricks kaum oder gar nicht überlisten lässt.

Eher im Kleinformat

Was bei den meisten Pick & Go-Versuchen derzeit auffällt, ist die geringe Größe der damit ausgestatteten Filialen. Amazon hält mit rund 2.300 Quadratmetern Ladenfläche seines Go Grocery-Stores in Bellevue, Washington aktuell den Rekord. Die Konkurrenz weist weit weniger beeindruckende Zahlen auf. AiFi kommt beim Aldi Shop & Go in London immerhin auf fast 490 Quadratmeter. Trigo deckt beim Münchener Netto etwas mehr als 240 Quadratmeter ab, beim kommenden niederländischen Aldi Nord-Projekt werden es Berichten zufolge knapp 400 Quadratmeter. Die sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Amazon derzeit noch kleinere Ladenformate bevorzugt. So bieten beispielsweise die Londoner Amazon Fresh-Filialen nur etwa halb so viel Platz wie die Aldi-Konkurrenz.

Zabka versorgt Polen primär mit autonomen Minishops (Bild: AiFi)

Solche Minishops können dem Handel allerdings helfen, direkt vor Ort zu sein, wenn seine Produkte benötigt werden. Żabka versorgt mit seinen autonomen Filialen bislang gerade einmal sechs polnische Städte, ist dort aber beispielsweise als Shop-in-Shop, an U-Bahn-Stationen, in Bahnhöfen und in Universitäten zu finden. Wie Żabkas Bereichsleiter Pawel Grabowski gegenüber „Forbes“ erklärte, nutzen junge Leute in Posen das Angebot gern, wenn sie gerade aus Diskotheken oder Clubs kommen. Und auch Nachtschwärmer an den U-Bahn-Haltestellen werden verstärkt angesprochen, so dass sich die übliche Kundschaft des Unternehmens deutlich erweitert. Żabka verwendet im Allgemeinen Container-Shops, die nur mittels App aufgeschlossen werden können.

Intelligente Körbe und Wagen

Eine kostengünstige Alternative zur flächendeckenden Ausstattung mit Kameras und Sensoren bilden intelligente Einkaufswagen und -körbe, die die in sie gelegten Waren automatisch identifizieren. Das darauf spezialisierte neuseeländische Start-Up Imagr ist seit März vergangenen Jahres in Europa aktiv. Im Sommer ließen sich dessen Wagen zudem schon einmal in einem Londoner Pop-Up Store testen. Das israelische Start-Up Flow (vorher: WalkOut) folgt dem Beispiel von Imagr, keine wirklich suchmaschinenkompatiblen Namen zu verwenden. Dabei muss es sich eigentlich nicht verstecken, da seine Nachrüstsets ganze Einkaufswagenflotten für Pick&Go fit machen können.

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